6.3.3     Effekte und Umkehreffekte

(Originalkapitel aus "Systematisches Erfinden)

 

In der Einleitung zur Monographie "Physikalische Effekte" von Schubert findet sich eine hoch interessante Bemerkung:

"Bei einer großen Gruppe von Effekten lassen sich Ursache und Wirkung vertauschen. Man erhält so Paare von Umkehr-Effekten, wie z. B. Seebeck- und Peltier-Effekt, Wiedemann- und Wertheim-Effekt, Dufour- und Ludwig-Soret-Effekt usw. Diesen Effekten liegt meist eine einfache Proportionalität zwischen den Meßgrößen zugrunde. Die Bezeichnung inverse Effekte ist ebenfalls üblich" (Schubert 1984, S. IX).

Liest man diese Sätze unbefangen, so drängt sich die Schlussfolgerung auf, die Beziehungen zwischen Effekt und Umkehreffekt seien einfach, klar und für jedermann verständlich. Damit scheint gleichzeitig festzustehen, dass zum Zeitpunkt der Entdeckung eines Effektes der Entdecker sofort an den möglicherweise zugehörigen Umkehreffekt hätte denken können bzw. müssen. Dies erscheint um so nahe liegender, als ein Entdecker gewöhnlich an der geistigen Front seine Zeit operiert, so dass ihm ohne Weiteres zugetraut werden sollte, Ursache und Wirkung bei einem von ihm neu entdeckten Phänomen, das ihn gerade deshalb besonders fesseln müsste, gedanklich und/oder experimentell zu vertauschen. Folglich wäre eigentlich zu erwarten, dass in den meisten Fällen das Jahr der Entdeckung und der Entdecker eines Effektes identisch sein müssten mit dem Jahr der Entdeckung und dem Entdecker des zugehörigen Umkehreffektes.

Indes sieht die Wirklichkeit völlig anders aus. Fast nie wurde der Umkehreffekt vom gleichen Physiker gefunden, der den Originaleffekt (das zuerst entdeckte Phänomen) erstmalig beobachtete und beschrieb. Noch erstaunlicher sind die Zeitdifferenzen zwischen der Entdeckung eines Effekts und der Entdeckung des Umkehreffekts. Meist vergingen Jahre, manchmal Jahrzehnte, bis der Umkehreffekt endlich gefunden wurde. Merkwürdigerweise ist diese Beobachtung (Zobel 1991, S. 161) von anderen Autoren bisher nicht kommentiert worden.

Betrachten wir Tab. 7. Sie wurde im Wesentlichen an Hand der lexikalisch aufgebauten Monographie von Schubert (1984) zusammengestellt und zeigt den erläuterten Sachverhalt derart deutlich, dass wir uns bei unseren persönlichen erfinderischen Schlußfolgerungen kurz fassen können.

Wenn noch nicht einmal die Avantgarde der Wissenschaft (man beachte die großen Namen in Tab. 7) in der Lage ist, das universelle Umkehr-Denken konsequent anzuwenden, dann sollten wir, die wir uns bestenfalls zu den Talenten zählen dürfen, die Qualität des eigenen Denkens sehr selbstkritisch beurteilen. Dies heißt nun keineswegs, man solle resignieren. Ganz im Gegenteil: möglicherweise ist heute, in einer Zeit exzessiver Technikentwicklung, die generelle Denkmethodik endlich an einem Punkt angelangt, der jenem viel zitierten Umschlag Quantität/Qualität gerecht wird. Somit wären wir in der Lage, wenigstens denkmethodisch etwas vorteilhafter als unsere wissenschaftlichen Vorfahren zu arbeiten, denen offensichtlich der generelle Vorteil des Umkehr-Denkens nicht geläufig war.

 

Tab. 7: Effekte und Umkehreffekte (der Entdecker eines Effektes ist meist nicht der Entdecker des Umkehreffektes; der Umkehreffekt wird oft sehr viel später als der Originaleffekt gefunden)

Auf unsere erfinderische Arbeit bezogen lautet die klare Empfehlung: Zu jedem Effekt, gleich ob bekannt oder neu entdeckt, ist der Umkehreffekt zu suchen. Gibt es ihn nicht (z. B. ist der Hall-Effekt nicht umkehrbar), so ist zu überlegen, warum der Effekt nicht umkehrbar ist. In einzelnen - seltenen - Fällen ist auch heute noch vorstellbar, dass der zugehörige Umkehreffekt tatsächlich existiert, obzwar er bislang nicht gefunden bzw. beschrieben wurde.

Genau die gleichen Denkmuster sind zweckmäßigerweise auch auf die eigenen Erfindungen anzuwenden. Die selbst gestellten Fragen sollten lauten:

Diese Fragen sind Vorschläge im Sinne von Denkanstößen. Ernsthafte Interessenten sollten sich tiefgründig in die faszinierende Welt der physikalischen Effekte hineindenken und vor allem die besonders wertvollen Querbeziehungen zu den selbst gefundenen Effekten (auch wenn diese noch so speziell sein mögen) immer wieder neu durchdenken.

 

6.3.4     Effekte und Analogieeffekte

Schubert schreibt zu den Analogieeffekten:

"Weiterhin gibt es 'analoge' Effekte: Viele neue physikalische Erscheinungen lassen sich durch Analogie zu bekannten in einem ersten Schritt erklären. So läßt sich der elektrische Strom zunächst analog zu strömenden Flüssigkeiten deuten. Durch Analogie lassen sich die Ergebnisse der Schwingungsgleichung und der Wellengleichung vom rein mechanischen Fall z. B. auf die Optik oder elektromagnetische Schwingungen und Wellen prinzipiell übertragen. Die bestimmenden Größen müssen dann allerdings neu interpretiert werden. Ein Beispiel für analoge Effekte sind der Barkhausen- und der Portevin-Le-Chatelier-Effekt." (Schubert 1984, S. X).

Im Falle der Analogieeffekte ist die heuristische Situation demnach grundverschieden von der Sachlage bei den Umkehreffekten (s. Abschn. 6.3.3). Während bei den meisten Umkehreffekten nicht so recht einzusehen ist, warum die Spitzenphysiker ihrer Zeit nach Auffinden eines an sich umkehrträchtigen neuen Effektes nur äußerst selten sofort den Umkehreffekt fanden, reicht der physikalische Wissensfundus des jeweils betrachteten Zeitabschnitts anscheinend nicht aus, um entdeckungsträchtige Analogiefelder nach vorn überblicken zu können.

Tab. 8 zeigt einige Beispiele. So war die Unterkühlung von Schmelzen und die Übersättigung von Lösungen sicher lange bekannt, ehe sich Kamerlingh Onnes mit der Tieftemperaturphysik zu befassen begann (s. Tab. 8 unten). Daher fehlten aus der Sicht der klassischen Physik die Voraussetzungen, um irgendeine Analogie in einem noch gar nicht bearbeiteten, geschweige denn gedanklich erschlossenen Gebiet auch nur vermuten zu können.

Schubert (1984) hat für derartige Fälle also durchaus Recht, wenn er die Denkrichtung umgekehrt angibt: Analogiebildung verläuft vom neu gefundenen Effekt zu den lange bekannten Effekten. Neue Effekte lassen sich besser erklären, wenn man Analogien zu klassischen Effekten zieht. Die oft sehr anschaulichen klassischen Effekte sind als erste Erklärungshilfe für die zunächst noch wenig anschaulichen neuen Effekte nützlich.

Ganz anders sieht es aus, wenn wir die Analogien innerhalb der Gruppe der klassischen Effekte untersuchen. Hier scheint eher die gleiche Situation wie bei den Umkehreffekten vorzuliegen. In vielen Fällen war das physikalische Wissen der Zeit ausreichend, um entdeckungsträchtige Analogiebetrachtungen anstellen zu können. Nehmen wir das Beispielpaar Hall-Effekt / Erster RighiLeduc-Effekt (Tab.8, oben). Hier ist der mit dem seinerzeit moderneren Gebiet der Elektrizitätsleitung verbundene Hall-Effekt sogar älter als der mit dem klassischen Gebiet der Wärmeleitung verbundene 1. Righi-Leduc-Effekt.

 

Tab. 8: Effekte und Analogieeffekte (Kommentar: siehe Text)

Für alle Fälle sollte deshalb immer so vorgegangen werden, als sei eine Analogie durchaus denkbar. Die tiefgründige Prüfung ergibt dann entweder, dass die Analogie bereits bekannt ist (Durchsicht der Effektesammlungen), oder dass sie aus naturgesetzlichen Gründen nicht vorstellbar ist (Achtung! Grenzen der eigenen Kenntnisse? Grenzen der eigenen Vorstellungskraft?), oder dass sie durchaus vorstellbar und damit ein lohnendes Suchobjekt ist. Geht man so vor, lässt sich für die Praxis des Erfindens viel gewinnen. Vor allem sei dringend geraten, diese an sich prinzipielle Denkweise unbedingt vorrangig auf die selbst entdeckten Effekte anzuwenden. Solche Effekte sind meist hierarchisch den bekannten Effekten unterzuordnen, sie stellen also Sub-Effekte dar, die aber dennoch den Charakter eigener Mini-Entdeckungen haben. Genau dieses Feld ist von der Substanz her nur dem fleißigen Experimentator, nicht aber dem bloßen "Schreibtischerfinder" zugänglich. Dem Experimentator sei geraten, die eigenen Beobachtungen ständig mit dem vorhandenen Wissensfundus (hier: den Effektesammlungen) zu vergleichen, alle nur denkbaren Analogiebetrachtungen anzustellen und auf diese Weise erfindungsträchtige Anwendungsmöglichkeiten so früh wie möglich zu orten.

 

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